Winfried Mall

Arbeit in sozialen Institutionen

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Über die gesellschaftliche Einbettung sozialer Institutionen

Vorbemerkung: Es ist mir bewusst, dass die folgenden Aussagen auf den ersten Blick recht allgemein daherkommen. Ihre Absicht ist es, das eigene Reflektieren anzuregen und das oft ideologiegefärbte Reden über soziale Institutionen zu hinterfragen. - Die Aussagen stehen vor allem vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen in Institutionen für Menschen mit geistiger Behinderung, treffen aber auch auf andere soziale Institutionen zu.


Wenn der erste Satz des Leitbilds lautet: "Bei uns steht im Mittelpunkt der Mensch.", ist noch nicht ausgesagt, um welchen Menschen es sich genau handelt:

  • Wirklich die Klientinnen bzw. die Klienten der Institution?
  • Oder eher die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Alltagswirklichkeit der Klienten gestalten?
  • Oder eigentlich die Institutionsleiterin, die den Rahmen der Institution prägt?
  • Oder vielleicht die Regierungsrätin, die das Budget im Kantonsrat verantwortet?

Und auch wie sich der oft erwähnte "kooperative Führungsstil" in der "flachen Hierarchie" konkret in Praxis umsetzt, geht aus dem Leitbild meist nicht genau hervor.

Das stellt nicht in Abrede, dass vielerorts gut und verantwortungsvoll gearbeitet wird. Wenn es jedoch zu Krisen und Konflikten kommt, werden oft die dahinter stehenden konkreten Interessengegensätze übersehen. Werden sie einfach mit ideologisch gefärbten Aussagen und Appellen übertüncht oder per Machtdemonstration unterdrückt, bleiben sie im Untergrund umso wirksamer.

So ist das Reden über soziale Institutionen häufig geprägt von schönen Sätzen, hinter denen allzu leicht die Wirklichkeit aus dem Blick gerät. Doch entscheidender als derlei Sätze sind die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Existenz und das Funktionieren sozialer Institutionen prägen.

Nur in sachlicher Anerkennung dieser vorgegebenen Konfliktlinien kann es gelingen, zermürbende Auseinandersetzungen zu vermeiden und immer wieder zu einem fairen Ausgleich zu kommen. Das erlaubt dann ein Arbeiten "so gut wie möglich".

Soziale Institutionen schaffen keinen ökonomischen Gewinn, sondern verbrauchen materielle Ressourcen.

Eine Firma im allgemeinen Wirtschaftsleben rechtfertigt ihre Existenz letztlich damit, dass sie Gewinn abwirft. Der muss nach Deckung aller Unkosten ausreichen, um zumindest künftig notwendige Investitionen zu ermöglichen, und auch der Besitzer erwartet eine Belohnung für seine Investition. Gelingt dies nicht, geht die Firma früher oder später in Konkurs.

Eine soziale Institution wirft keinen ökonomischen Gewinn ab. Sie erwirtschaftet keinen Mehrwert. Sie verbraucht Geld. Ihre Dienstleistung lässt sich nicht gewinnbringend verkaufen. Im besten Fall arbeitet sie kostendeckend.

Im Fall sozialer Unternehmungen, die dennoch privatwirtschaftlich und gewinnorientiert betrieben werden, gestaltet sich dieser Interessenskonflikt noch schärfer: Alles, was in die Qualität der Dienstleistungen investiert wird, geht am Gewinn verloren. Selbst wenn sich die Leitung für Qualität entscheidet, ist fraglich, wie lange und in welchem Umfang die Anteilseigner dies mittragen.

Die Existenz sozialer Institutionen und ihre Ausgestaltung beruht auf politischen Entscheiden. Sie sind grundsätzlich jederzeit revidierbar.

Die Klienten und Klientinnen sozialer Institutionen sind in der Regel Personengruppen, die zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind. Oft gehören sie zu eher randständigen Kreisen, die in der allgemeinen Bevölkerung weniger wertgeschätzt werden (Behinderte, Alte, Kranke, ...), und mit denen sich die meisten nicht gern auf eine Stufe stellen.

Damit für diese Personengruppen Geld aufgewendet wird, braucht es einen politischen Entscheid. Die Entscheidungsträger - Stimmvolk, Parlament, Regierung - müssen beschliessen: "Es ist uns den Aufwand wert, für diese Menschen Angebote von einer bestimmten Qualität zu schaffen." Und dies, obwohl das Geld für den öffentlichen Haushalt verloren ist: Man kann damit nichts anderes kaufen, und es kommt auch kein finanzieller Gewinn zurück.

Wohin es führt, wenn man diese Personengruppen konsequent als unnütze Esser betrachtet, deren Existenz der Gesellschaft nichts bringt, haben eindrücklich die Gräueltaten im nationalsozialistischen Deutschland gezeigt.

Es ist aber in keiner Gesellschaft selbstverständlich, welche Lebensqualität man diesen Menschen zubilligt. Wenn die öffentlichen Haushalte unter Druck kommen und gespart werden muss, steht schnell einmal im Raum, dass es z. B. den Behinderten doch eigentlich zu gut geht und man dort sparen könnte. Das Recht dieser Menschen auf Leben und Entfaltung ist nie ein für allemal gewährleistet.

Je materialistischer eine Gesellschaft geprägt ist, und je mehr Leistung und Erfolg als Bewertungskriterien im Vordergrund stehen, umso schwerer fällt es aufzuzeigen, welch unschätzbaren - aber eben nicht-materiellen - Beitrag Menschen mit verminderter Leistungsfähigkeit (Behinderte, Alte, Kranke, ...) für eine humane Gesellschaft erbringen.

Die Kundschaft sozialer Institutionen zerfällt in Instanzen mit gegenläufigen Interessen.

Kundschaft meint hier alle Instanzen, die Erwartungen und Ansprüche an die Institution haben.

  • Die Gesellschaft (repräsentiert durch Kanton, Invalidenversicherung, ... - letztlich das Volk) kommt für das nötige Geld auf und erwartet, dass damit möglichst sparsam gewirtschaftet wird. Auf sozialer Ebene besteht darüber hinaus tendenziell die Erwartung, dass das Klientel damit versorgt ist und das allgemeine Leben nicht mehr stört.
  • Die Klientinnen und Klienten erwarten von der Institution ein möglichst erfülltes und angenehmes Leben. Ihre persönlichen Umstände, die Unterstützungsbedürftigkeit begründen (Behinderung, Alter, Krankheit, ...), sollen möglichst gut kompensiert werden. Sie wollen aktiv und möglichst selbstständig am Leben der Gesellschaft teilhaben.
  • Die Angehörigen erwarten eine Entlastung von ihrer eigenen Verantwortung und eine zuverlässige und qualitätsvolle Betreuung und Versorgung ihrer Familienmitglieder. Dazu kommen nicht selten sehr individuelle, in ihrer Lebensgeschichte begründete Erwartungen (z. B. was die Einschätzung des Unterstützungsbedarfs betrifft), die sich nicht unbedingt mit denen der KlientInnen und MitarbeiterInnen decken.
  • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwarten für sich einen sicheren und ausreichend vergüteten Arbeitsplatz mit angenehmen Arbeitsbedingungen und wollen ihren Betreuungsauftrag für die KlientInnen möglichst gut erfüllen.

Es ist nicht möglich, den Erwartungen aller dieser Instanzen gerecht zu werden. Die Art und Weise, wie deren Interessen gegen einander abgewogen werden und ein Ausgleich gefunden wird, prägt entscheidend das Wesen einer sozialen Institution.

Soziale Institutionen stehen damit in unvermeidbaren Loyalitätskonflikten, die sich in ihren Strukturen abbilden.

So ergibt sich für eine soziale Institution notwendig ein mehrdimensionaler Loyalitätskonflikt:

  • Sie ist der Gesellschaft gegenüber verantwortlich, deren Geld sie ausgibt: Sie sieht sich verpflichtet zu sparen.
  • Sie ist ihren Klientinnen und Klienten gegenüber verantwortlich, deren Lebensqualität sie gestaltet: Sie sieht sich verpflichtet, Aufwand zu treiben.
  • Sie ist den Angehörigen verpflichtet, deren Erwartungen an die Betreuung ihrer Familienmitglieder sie nachkommen soll.
  • Sie ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verpflichtet, denen sie angemessene Arbeitsplätze zur Verfügung stellen soll.

Diese vorgegebenen Konfliktlinien finden sich in ihrer inneren Struktur wieder:

  • Die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wird von der Leitung wahrgenommen. Sie hat dafür zu sorgen, dass der vorgegebene Kostenrahmen eingehalten und die sonstigen Erwartungen der Gesellschaft erfüllt werden. Die Leitung selbst hat kein unmittelbar gegebenes, materielles Interesse daran (wie z. B. durch Steigerung des Betriebsgewinns oder der eigenen Vergütung), für qualitätsvolle Arbeit an der Basis zu sorgen - solange die Institution nicht vorgegebene Standards verletzt oder in der Öffentlichkeit auffällt und damit deren Unterstützung riskiert.
  • Die Verantwortung gegenüber den KlientInnen wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Basis in Betreuung, Pflege, Beschäftigung, usw. wahrgenommen. Sie haben ständig abzuwägen, wie sie deren Interesse an einem qualitätsvollen Leben und ihr eigenes Interesse an einem angenehmen Arbeitsplatz mit einander vereinbaren. Damit realisieren sie letztlich die Betreuungsqualität. Sie haben kein unmittelbares Interesse daran zu sparen, so lange nicht dadurch ihr Arbeitsplatz gefährdet wird. Ausserdem müssen sie auf die Erwartungen der Angehörigen Rücksicht nehmen.
  • Die Klientinnen und Klienten selbst haben meist eher wenig Möglichkeiten, ihre eigenen Interessen direkt durchzusetzen, wenn ihnen die Institution nicht entgegenkommt. Sie können aber den Betreuungsalltag stören, indem sie sich verweigern, Regeln überschreiten, "schwieriges" Verhalten zeigen.
  • Der mittleren Führungsebene obliegt es, in diesen Konflikten zu vermitteln - oder die Konflikte werden auf ihrem Rücken ausgetragen.

Die Wertschätzung der Gesellschaft für soziale Institutionen und ihre MitarbeiterInnen entspricht tendenziell ihrer Wertschätzung für deren Klientel.

Oft ist das Klientel sozialer Institutionen in der Gesellschaft nicht sonderlich hoch angesehen, da behinderte, kranke oder alte Menschen die gängigen Leitbilder von Schönheit, Leistungsfähigkeit und Jugendlichkeit in Frage stellen. Entsprechend wenig attraktiv erscheint es deshalb, sich für diese Menschen beruflich zu engagieren. Wer dies dennoch tut, wird entweder heroisiert ("Das könnte ich nie...!") und damit aus dem Mainstream ausgesondert, oder abgewertet ("Zu mehr - d. h. einer sozial attraktiveren Tätigkeit - hat es wohl nicht gereicht...").

Selbstverständlich haben sich viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewusst für ein soziales Engagement entschieden. Neben ihnen trifft man jedoch in sozialen Institutionen - auch auf Leitungsebene - nicht so selten auf Personen, die durch eher inhaltsfremde Umstände und Zwänge in dieses Arbeitsfeld geraten sind. Dies spiegelt sich in mancherlei Aspekten, wie sie ihr Engagement ausgestalten, vor allem, wenn dieser Umstand tabuisiert bleiben muss.

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